Frau Prof. Dr. Lilly Kemmler hat ab 1948 an der Universität Münster bei Wolfgang Metzger und in München Psychologie studiert. Nachdem sie dort promoviert und sich habilitiert hatte, wurde sie 1968 auf einen der ersten klinsch-psychologischen Lehrstühle in der Bundesrepublik berufen. Seit 1991 ist Frau Kemmler emeritiert.
Auszug aus dem Interview mit Prof. Dr. Lilly Kemmler:
L. Kemmler: Ich habe viel Zeit durch den Krieg und die Nachkriegszeit verloren. '40 habe ich Abitur gemacht und konnte keinen Studienplatz bekommen. Langfristig hatte das Vorteile, weil ich sonst etwas anderes studiert hätte. Zum 2. November 1948 habe ich mit 24 Jahren einen Studienplatz für Psychologie in Münster bekommen. Da wusste ich schon, dass ich Psychologie studieren wollte, ich wusste nur noch nicht, was das war, wie bei vielen.
Und ich habe unendliches Glück gehabt, weil hier gab es Professor Wolfgang Metzger, Schüler von Köhler und Wertheimer aus Berlin, der auch dort promoviert und sich habilitiert hat. Er wurde 1941 nach Münster berufen. Als ich anfing zu studieren, war er der einzige Professor. Einen Assistenten hatte er, und wir waren allenfalls etwa 40 Studenten.
Der Vorteil, zu Metzger zu kommen, war, dass ich als akademischen Lehrer jemanden hatte - was damals in Deutschland ungewöhnlich war - der empirisch-experimentell arbeitete, der einen internationalen Ruf besaß, der Gestaltpsychologe war und insgesamt sehr breit orientiert war.
Wir waren damals ganz wenige Leute, von denen sind viele Professoren geworden: Oskar Graefe war schon durch den Krieg gegangen und ist dann Professor in dem neugegründeten Bochum geworden. Heinz Heckhausen ist sehr bekannt, der Motivationsforscher, der nachher im Max-Planck-Institut in München war. Dann noch jüngere Leute wie Michael Stadler, der war Hilfskraft bei Metzger und ist Professor in Bremen. Er macht am stärksten die Gestalttherapie weiter. Dann ein Österreicher: Adolf Vukovich, von dem ich eine Menge gelernt habe. Er war jünger als ich und ist Professor in Regensburg. Er ist Wiener und hatte auch da studiert.
Und das war einfach so: Wir waren unglaublich aufgeschlossen und interessiert, haben über alles geredet. Jedes Jahr sind wir alle - von Professor bis Student - mit dem Unibus auf Exkursion gewesen.
Wo sind Sie denn gewesen?
L. Kemmler: Zum Beispiel in Holland, bei Nota, in Belgien, und wir waren in der Schweiz bei Piaget ... Also das war ein unendlicher Aufbruch, und wir waren mitten dazwischen. Dann kam Adolf Vukovich als Assistent aus Österreich, er hatte schon Statistik gelernt und hat erste Statistikkurse gegeben. An denen habe ich auch teilgenommen und habe als Assistentin die Klausur mitgeschrieben. Zwei Semester habe ich dann in München studiert, geisteswissenschaftliche Psychologie. Da waren die Professoren Lersch und Vetter. Da habe ich erst begriffen, welche Bedeutung Metzgers empirisch experimentelle Psychologie hat. Dass das völlig etwas anderes als die geisteswissenschaftliche Ausrichtung ist. Dann hat mein Herz endgültig für empirisches, experimentelles Arbeiten geschlagen. Ich habe mehr empirisch als experimentell gearbeitet.
Und dann war das so: Wir saßen damals schon mitten in der Stadt hier in Münster, wo wir jetzt nicht mehr sind. Und in meiner Examenszeit kamen einfach Menschen aus Münster und sagten: "Sie sind doch Psychologen, wir kommen mit unserem Kind nicht mehr zurecht, jetzt machen Sie mal was". So begann unsere Erziehungsberatung, später Beratungsstelle und heute Psychotherapieambulanz. Sie ist von den damaligen Kollegen und späteren Professoren Heinz Heckhausen, Oskar Graefe und mir begründet. 1952 ist sie gegründet worden. Wir hatten kaum Vorbilder, hatten viel Psychoanalyse gelesen und nahmen außerdem unseren gesunden Menschenverstand zu Hilfe. Es gab ja praktisch noch nichts. Das heißt, wir haben Freud mit gesunden Menschenverstand - würd' ich sagen - angewandt.
Im Sommer 1953 machte ich Diplom, 1955 war ich zum ersten Mal auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Da ist Heinz Heckhausen auf mich zu gekommen - damals siezten sich noch alle Studenten - und sagte "Fräulein Kemmler, kommen Sie einmal ganz schnell, ich habe einen Herrn Tausch kennen gelernt, der war bei Rogers". Und so lernten wir auf dem Kongress die Klientenzentrierte Therapie von Rogers kennen. Es gab damals noch keine offizielle Ausbildung, wir haben das sofort umgesetzt. Ja? Gleichzeitig haben wir dann Kinder mit Schulschwierigkeiten untersucht und behandelt. Es gab in Deutschland also noch keine Ausbildung, außer für die Psychoanalyse. Wir haben uns das also mehr oder minder selbst angeeignet ...
'68 passierte dann folgendes: Professor Graefe und Professor Heckhausen hatten Lehrstühle an der neu gegründeten Universität in Bochum erhalten. Sie haben zunächst noch in Münster gesessen, da die Universität erst gebaut werden musste. Dann kam 1968 Fred Kanfer in einem Sabbatical, also in einem Freisemester nach Bochum, so lernten wir ihn kennen und waren fasziniert.
Heckhausen hatte erzählt, dass Kanfer da ist. Wir Münsteraner sind im Sommersemester 1968 einmal die Woche einen ganzen Tag nach Bochum gefahren und haben an einer seiner Übungen teilgenommen. So haben wir die Verhaltenstherapie gleich sehr intensiv kennen gelernt ... Kanfer war damals, 1968, eben doch schon ziemlich breit ...
Von seinen Konzeptionen her?
L. Kemmler: Von seinen Konzeptionen, ja. Ich bin dann in dem Sommer das erste Mal in den USA gewesen, und zwar bei dem Psychologenkongress der APA in San Francisco. Das war auch insgesamt sehr schön. Da habe ich mehr von der Verhaltenstherapie erfahren ...
Was man sich heute kaum noch vorstellen kann, ist, wie wenig spezialisiert wir damals waren. Das war noch gar nicht üblich. 1964 kam Professor Witte von Tübingen nach Münster, er bekam die zweite Psychologieprofessur. Er war auch Gestalttheoretiker. 1968 kam Herr Professor Sader aus Frankfurt, er lehrte Persönlichkeitspsychologie. Ich erhielt dann die vierte Professur für Klinische Psychologie und Diagnostik.
Es war ja einer von den ersten Lehrstühlen überhaupt in der Bundesrepublik oder?
L. Kemmler: Ja, ja. So genau kann ich es im Moment nicht sagen, Frau Professor Duhm gab es vorher, ... und Herr Professor Brengelmann war ans Max-Planck-Institut berufen worden. Aus diesem Lehrstuhl gingen viele Schüler hervor.
Sie haben mich ja gefragt, wie ich auf die Verhaltenstherapie gekommen bin: Da war ein gewisses Ungenügen an der Rogers' schen GT, dann eine sehr starke doch empirisch-experimentelle Prägung durch Metzger - obwohl das bei Rogers ja auch war -, ein sehr starkes Interesse an Menschen, deswegen hatte ich Psychologie studiert, dann dass Kanfer schon '68 da war ...
Ja, so hat das angefangen. Und ich habe in Amerika den Ruf auf diesen Lehrstuhl gekriegt (lachend) ... Damals nahmen die Psychologiestudenten insgesamt sehr zu: in Münster innerhalb von sechs Jahren von 100 auf 1000. Dazu kam dann ab 1968 die Studentenrevolution, ein ständiger Aufruhr. Der "frühe und der späte Marx" in allen Phasen des Psychologiestudiums. Dabei hatten wir nur Räume in einer kleinen Etage und benutzten auch das Direktorenzimmer für unsere Beratungen und für Psychotherapie und "der Chef" konnte dann nicht hinein bis die Therapiestunde zu Ende war ...
Sie müssen sich das so vorstellen: Wir waren sehr beengt, hatten alle sehr wenig Ausbildung und plötzlich waren Unmengen von Studenten da, die gleichzeitig alle revolutionär waren. Das ging bei den Psychologen besser als bei den Medizinern oder bei den Juristen. Weil ich gleichzeitig einen Ruf nach Marburg hatte, habe sehr, sehr gut verhandelt. Ich bekam acht Assistentenstellen, sechs wissenschaftliche Hilfskräfte und eine mathematisch-technische Assistentin, dabei waren dann auch Stellen für die Beratungsstelle, so dass da endlich eine Leitung hinein kam. Die musste ich dann alle besetzen.
Im Sommer 1970 ist Kanfer dann zu uns nach Münster gekommen. Wir hatten damals schon eine Fernsehanlage, einen kleinen Hörsaal und eine Einwegscheibe und ein Psychotherapiespielzimmer. Das haben wir jetzt leider nicht mehr, nicht in der Größe. Wir waren dann also schon ziemlich gut eingerichtet und hatten auch mehr Platz. Es war wirklich eine Aufbruchssituation. Und was heute alles nicht mehr möglich wäre: Die Uni eröffnete die Möglichkeit, um Fred für drei Wochen zu bezahlen. Das wäre heute völlig undenkbar. Aber die waren auch im Aufbruch, ja? Er ist also dann drei Wochen hier gewesen und hat von morgens bis abends unterrichtet.