Prof. Dr. Dietmar Schulte ist Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Bochum. Er leitet die Arbeitseinheit Klinische Psychologie und Psychotherapie, das Zentrum für Psychotherapie und den weiterbildenden Studiengang Psychotherapie.

Er studierte von 1964-1968 Psychologie an der Universität Münster. Während des Studiums war er studentische Hilfskraft bei Prof. Dr. W. Metzger, von Dezember 1968 bis Februar 1974 Wissenschaftlicher Angestellter am Psychologischen Institut der Universität Münster (Abteilung für Klinische Psychologie, Leitung: Prof. Dr. L. Kemmler).

Seit 1974 hat er die C4-Professur für Psychologie V (Klinische Psychologie) an der Fakultät für Psychologie der Ruhr-Universität Bochum inne.

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Auszug aus dem Interview mit Prof. Dr. Dietmar Schulte:

D. Schulte: Die Verhaltenstherapie war eine Entwicklung aus der Psychologie heraus. Ich erinnere mich, wie spannend das war. Es gab die erste Zeitschrift "Behavior Research and Therapy", von Eysenck herausgegeben, ich glaube, die erschien vierteljährlich. Und wir haben wirklich darauf gelauert, dass das nächste Heft kam, weil irgendjemand auf neue Ideen gekommen war und ausprobiert hatte, ob das nicht auch funktionierte bei irgendeiner neuen Störung, ja? Und all die anderen Sachen. Ich habe damals Bibliographien gehabt, auf die ich stolz war! Die gesamte Literatur zur Verhaltenstherapie zu haben (beide lachen)! Das wäre schön, wenn man das heute noch könnte!

Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.

D. Schulte: Nein, wahrhaftig nicht. Das ging rasend schnell, dann war das nicht mehr möglich. Ja, also das stand im Vordergrund. Es war faszinierend zu sehen, es gab ja nichts ... Die Ausbildung, die ich noch gemacht hatte, was den Klinischen Bereich anbelangt ... Ich habe mich da auch schon engagiert, man konnte als Student in der Beratungsstelle zum Beispiel therapeutisch tätig werden. Es gab einen Werkkeller, und da wurde die so genannte Slaveson-Therapie mit Kindergruppen gemacht, tiefenpsychologisch orientiert ...

Ich kenne den Begriff gar nicht.

D. Schulte: Den kennt kein Mensch mehr ... Man kann ja immer etwas aus einer neuen Theorie hineininterpretieren, ich würde heute sagen, die beinhaltete viele Elemente, die man auch als verhaltenstherapeutisch bezeichnen könnte. Dadurch bin schon ein bisschen hineingekommen. Aber ansonsten - außer Kindertherapie - konnten Psychologen ja nichts machen, sie gingen mit dem Testköfferchen durch die Klinik. Das war ihre Tätigkeit. Und ... wenn, dann musste man Psychoanalyseausbildung machen und verlor de facto seine Identität als Psychologe und wurde was anderes, nämlich Analytiker. Nun kommt da plötzlich so eine Entwicklung und zeigt: Die Psychologie kann selber etwas bringen und gleich auch - wie soll ich das sagen - mehr nachvollziehbar aus dem Denken der Psychologie. Das war sehr faszinierend damals. Ja?

Ja, diese Faszination, das ist etwas, was man aus heutiger Perspektive so auf den ersten Blick nicht mehr nachvollziehen kann. Was hat die Faszination und auch die Euphorie, die es gab, was hat das ausgemacht?

D. Schulte: Ja, für mich war es erst einmal ein Aspekt, dass sich dort etwas entwickelte, neu entwickelte, und dass für mich auch tatsächlich Psychologie nützlich war, anwendbar war. Aber dann kam schnell hinzu, weil ich dann auch meine ersten Therapien machte, dass man selber erfuhr, es funktioniert! Man konnte Menschen helfen zum damaligen Zeitpunkt. Ich sage es noch mal: Es war schon faszinierend, Leute mit Ängsten! Damals galten Phobien für die Psychoanalyse als ausgesprochen schwer behandelbar. Und wir setzten uns einfach hin ..., ich meine mit einer unverfrorenen Naivität natürlich auch, und machen da eine Desensibilisierung, und tatsächlich, es funktioniert.

Das geht mir bis heute noch manchmal durch den Kopf: wenn ich sehe, mit welchen Skrupel und Sorgen Leute, die hier in der Ausbildung kommen, mit ihren ersten Therapien anfangen, dann sehe ich diese Diskrepanz. Mir ist klar, dass die Situation heute anders ist, aber manchmal wünsche ich es mir oder wünsche es den jüngeren Kollegen, dass sie mit ein bisschen mehr Selbstvertrauen, da 'rangehen würden.

Für mich persönlich war faszinierend sowohl dieser wissenschaftliche Aspekt, und ... - wie soll ich sagen - vielleicht auch so etwas wie Stolz auf diese Entwicklung, obwohl ich die zu dem damaligen Zeitpunkt ja nur rezipiert und dann mitverbreitet habe, aber keine eigene Forschung gemacht hatte, und eben auch diese praktische Seite. Und das hat alle angesteckt. Es kam dann schnell die Ausbildungsseite hinzu, die sich so rasend entwickelte. Selbst als ich dann im Februar '74 hierher nach Bochum kam, und wir hier mit Lehrveranstaltungen anfingen, setzte sich das fort, was wir in Münster auch hatten. Ich hätte sämtliche Lehrveranstaltungen zwei- oder dreimal machen können, weil überall aus der Praxis Kolleginnen und Kollegen anriefen und sagten, "Können wir nicht kommen und die Lehrveranstaltung machen" ...

Die wollten an Seminaren teilnehmen?

D. Schulte: Ja, oder "Können Sie uns nicht wenigstens einen Studenten vermitteln, der bei uns Praktikum macht, damit wir auf diesem Weg ...".

Vielleicht kam das noch hinzu: Es war ja auch eine Aufwertung des Psychologen, des Klinischen Psychologen, er war jetzt nicht mehr nur der Testknecht, sondern er konnte jetzt plötzlich auch therapeutisch tätig sein. Und da ist für mich die berufspolitische Seite sehr früh dann hineingekommen. Ich habe in diesem Heft des Münsteraner Verbands noch ein Papier von mir gesehen wohl, in dem ich schon sehr früh dann ziemlich frech - würde ich heute sagen - gefordert habe, "Nun müssen wir auch zugelassen werden und brauchen ein Gesetz" usw. Das war für mich immer auch eine Perspektive zu sagen, das gehört dazu, jetzt haben wir diese neuen Methoden, jetzt müssen wir, Psychologen, das auch anwenden können ...

Das finde ich auch ein spannendes Phänomen, Sie sagen, "ein bisschen frech das gefordert", also so das Selbstbewusstsein oder die Sicherheit, dass man da das Richtige tut und ...

D. Schulte: Tja.

... also dass man sich sicher ist, dass man das Richtige tut, und das auch besser ist als die Analyse oder die Gesprächspsychotherapie. Das habe ich jetzt auch schon von anderen Kollegen gehört. Das finde ich interessant.

D. Schulte: Das ist auch interessant. Man muss das aus der damaligen Situation sehen, und es war durch Eysenck ein Stück weit in die Verhaltenstherapie reingeimpft. In diesem ersten Buch "Neurosen - Ursachen und Heilmethoden" gibt es diesen schönen Vergleich, auf der einen Seite die Psychoanalyse und auf der anderen die Verhaltenstherapie. Und bei der Psychoanalyse war das Alles zu kritisieren, und die Verhaltenstherapie war so toll von der theoretischen Grundlegung ... Das hatte er vorher auch schon publiziert. Wissenschaftstheoretisch betrachtet würde ich heute sagen, davon sind kaum Positionen haltbar. Wahrscheinlich gehört so etwas zu einem Aufbruch dazu; man braucht eine Fahne, man brauchte einen Namen, man musste sich identifizieren.

Es war ja auch etwas von Aufbruch bei den anderen Disziplinen. Die anderen psychologischen Disziplinen fanden diese Entwicklung am Anfang auch ausgesprochen interessant und unterstützen das, obwohl nun gerade Skinner und Lerntheorie für viele gar nicht das war, was sie vertraten ...

Aber ansonsten trug es auch zu einer Stärkung des Selbstbewusstseins der Psychologie insgesamt bei, würde ich sagen. Es war erkennbar, dass hier die Psychologie in breiterem Feld etwas leistete ... Das war eine Erst-Entwicklung der Anwendung von Psychologie. Rogers gab es auch schon. Aber das war noch etwas anderes, das war eine eigene Leistung ... Rogers kam aus der Psychoanalyse und hat auch etwas Neues gemacht, hat aber nicht die Psychologie angewandt. Und hier war es einfach wirklich die Psychologie ...

Etwas originär psychologisches.

D. Schulte: Ja, ... wo also viele Faktoren zusammenkamen. Die GVT-Mitgliederzahlen wuchsen recht schnell, das Interesse war riesig. Ich habe Vorträge bei was für Kliniken auch immer gehalten, weil alle wollten plötzlich ... , ich glaube, sogar mal bei den Urologen in Münster. Was konnte man nicht alles mit Desensibilisierung machen! Es war ein großes Interesse und eine Neugier, auch von den somatischen Ärzten. Das habe ich später nie so deutlich gemerkt wie in dieser Anfangszeit, dass gerade dieses experimentelle, empirisch-wissenschaftliche dort durchaus auf Interesse stieß. Und na ja, es wuchs und es wurde deutlich, wir brauchen jetzt auch eine geregelte Ausbildung ...

Parallel passierte ja berufspolitisch etwas im Hinblick auf das Psychotherapeutengesetz. Es war letztendlich ausgelöst, weil Kennedy in USA eine Kommission eingesetzt hatte, die eine Psychiatriereform machen sollte. In der Folge mache der Deutsche Bundestag zunächst auch zwei Anhörungen, um zu diskutieren, wie die Situation der Psychiatrie in Deutschland ist. Und bei der ersten oder bei beiden Anhörungen, das weiß ich jetzt nicht mehr, ... auf jeden Fall sind zwei Psychologen oder Psychologinnen damals auch eingeladen worden, dort zu reden ...

Bei der Anhörung im Bundestag?

D. Schulte: Es waren Anhörungen des Bundestages in Emmendingen. Eine Person, die da gesprochen hat, war Erna Duhm, eine der ersten damals, die den Klinischen Lehrstuhl in Göttingen hatte. Und der zweite war Hans Brengelmann ... Er ist aufgetreten und hat sehr deutlich gesagt, es ist höchste Zeit, die Psychologen haben jetzt endlich eine Psychotherapie entwickelt, die etwas bewirkt, und wir brauchen jetzt eine gesetzliche Regelung für die Psychologen, damit die tätig werden können.