Prof. Dr. Bernd Röhrle studierte Psychologie und ist seit 1994 Professor für Klinische Psychologie an der Philipps Universität Marburg.

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Auszug aus dem Interview mit Prof. Dr. Bernd Röhrle:

Wie hast du die Verhaltenstherapie kennen gelernt, in welchem Kontext, wann und war das?

B. Röhrle: Das war hier in Tübingen, während meines Studiums im Wesentlichen. Und die Situation war eben so zu beschreiben, ich habe 1967 In Tübingen begonnen zu studieren. Bis zu dem Zeitpunkt - so um diese Wende 1967, `68 - war es so, dass die Klinische Psychologie im Wesentlichen eine Psychologie der Rechenknechte war. Und da kamen eben so junge, engagierte Assistenten und haben uns dann die Verhaltenstherapie vorgeführt, zum Teil praktisch mit Entspannungstechniken, Jacobson und so weiter. Das hat uns schon mal sehr angesprochen. Es war eben die Möglichkeit einer neuen Identität.

Und die eher breitere Berührung, die bekam ich dann bei dem ersten Verhaltenstherapiekongress in München. Der war, glaube ich, 1969; von dem könnte ich ganz viel erzählen. Aber der brachte dann durch die Vielzahl der Leute schon in breiterem Maße eine Stärkung der sozialen Identität in diesem Bereich voran. Und auch gleich - das ist ja offensichtlich der Zeitraum, in welchem das zu liegen kam - die Berührung zu einer Art von Verhaltenstherapie, die sich nicht als Sozialtechnologie verstehen wollte: Die war schon vorbereitet im Prinzip, man hat auch die kennen gelernt, aber das war eben zugleich immer in den gesellschaftlichen Kontext eingebettet. Und der hatte ja zum damaligen Zeitpunkt seine eigenen Charaktere.

Kannst du dich noch erinnern, was du an der Verhaltenstherapie spannend fandest? Du hast jetzt schon einige Sachen benannt ...

B. Röhrle: Ja, ich kann das auch sehr präzise beantworten. Im Wesentlichen hat mich, uns vielleicht ein Artikel, der uns aus der Seele sprach, angesprochen. Der war von Eva Jaeggi, den hat sie im Argument neunzehnhundertund... veröffentlicht. Hier kam die Botschaft rüber: Sie ist übbar, es ist graduierbar, und es ist ein Kontext von Lernumwelten, die man prinzipiell mitverändern kann und so weiter. Es ist also sozusagen ein im Ansatz emanzipatorisches Moment mitgeliefert. Und das hat die VT attraktiv gemacht, neben der vorhin schon angedeuteten, neuen sozialen Identität, die man so vermittelt bekam.

Gab es für dich damals auch schon Aspekte der Verhaltenstherapie, die du problematisch gefunden hast?

B. Röhrle: In diesen ersten Zeiten?

Ja, in den ersten Zeiten?

B. Röhrle: Ja, das kann man in verschiedene Aspekte unterteilen. Es war von Anfang an so, dass diese Dialektik nicht, aber dieses Spannungsfeld von einer auf der einen Seite rein sozialtechnologisch orientierten Verhaltenstherapie gegeben war, die ja ohne relativ große Probleme mit Aversionstherapie und all diesen Dingen umgegangen ist. Und auf der anderen Seite eine Verhaltenstherapie, die sozusagen im Mittelbereich versucht hat, eine menschliche Form oder eine emanzipatorische Form zu finden, und die darüber hinaus gehend sogar das Individuum aus dem Auge verlieren wollte; die, die Cues, so waren die Begriffe, die SDs und SDeltas, so verändern wollte ... Also, es ging um gesellschaftliche Veränderungen, man muss nur Szazs und verschiedene Autoren nennen.

Wenn du nach kritischen Punkten frägst, war es ja auch so, dass die Identität zugleich in dieser Hinsicht gestärkt wurde: Es gab von vorneherein eine massive Kritik an der sozialtechnologischen Variante, die insbesondere aus der Bremer Ecke kam. Diese war ja zugleich eine Variante, des Machtmissbrauchs, der Unterdrückung, also genau das Gegenteil von den emanzipatorischen Momenten, die sie scheinbar auch in sich trug ...

Wofür steht das eigentlich: die "Gewerkschaftslinie"? Was heißt das im Rahmen von der DGVT, GVT bzw. DGVT?

B. Röhrle: Von dem damaligen Denken her ..., heute und damals ist schwer auseinander zu halten .... also zum damaligen Zeitpunkt war es einfach so, dass diese zur sozialtechnologischen Ausrichtung alternative Linie eben eine mit gesellschaftlichen Kräften verknüpfte Linie sein sollte . Und da war allgemein die Rede davon, dass das die Gewerkschaften sein könnten, und dass die eine gesellschaftliche Kraft sind, die auch die Ziele besser erreichen helfen kann, wie die Umsetzung der Verhaltenstherapie usw.. Und das ist, glaube ich, auch das, was mich lange Zeit bewegt hat, diese Gewerkschaftslinie zu pflegen. Das hat verschiedene Ausdrucksformen gehabt, ist bis relativ weit hoch in die Spitzen dann gegangen und hat zu Kooperationen verschiedenster Art geführt, ja? Also es ging eigentlich immer um ...

Man muss sich vorstellen, was heute ja kaum noch eine Rolle spielt: Da gab es ja noch, ich glaube, der Autor hie�? Goldstein, "Strukturierte Lerntherapie" hieß das, ja, kennst du das noch?

Der Name kommt mir bekannt vor, aber gelesen habe ich das nicht.

B. Röhrle: Ich glaube, es ist von 1973 und das ist der Autor, der speziell Verhaltenstherapie für Arme und Unterprivilegierte formuliert hat.

Mhm, das war ein amerikanischer Autor?

B. Röhrle: Ja, ja klar. Das sind so Sachen, womit wir sympathisiert haben. Heiner Keupp's Einfluss war natürlich durch diese Krankheitsmodelldiskussion auch wichtig.

Noch eine andere Frage: Was würdest du sagen, was waren die wesentlichen Gründe für die Professionalisierung der Verhaltenstherapie und dafür, dass die Verhaltenstherapie sich in Konkurrenz zu anderen Therapieverfahren auch so etablieren konnte? Und welche Rolle hat die DGVT dafür gespielt?

B. Röhrle: Ich glaube, es sind wirklich zwei Dinge. Also es ist - so wie ich das heute betrachte - ihre sogenannte Wissenschaftlichkeit: Also dass sie wirklich Ergebnisse vorgelegt hat, und auch vergleichende Ergebnisse. Und der zweite Punkt ist damit verbunden, aber auch unabhängig davon: dass sie sich eben bekannt gemacht hat. Also in der Bundesrepublik ..., deine Frage bezieht sich auf die Bundesrepublik oder weltweit?

Sie bezieht sich jetzt erst einmal auf die Bundesrepublik.

B. Röhrle: Also, du musst dir mal vorstellen ... Vielleicht ist am Ende dieser zweite Bereich fast noch wichtiger, weil wir eben so etwas wie eine Heimat produziert haben, wie ich dir am Anfang erzählt habe: als eine Art von sozialer Identität, wo man sich nicht bloß zum Technologen (aber auch) ausbilden lassen konnte oder sich berühren lassen konnte. Und da muss man sich eben auch vorstellen, ich glaube, der Verband hat heute so um die 4000 Leute: Als ich im Vorstand war, haben wir über 10.000 Leute akquiriert.

Echt, über 10.000?

B. Röhrle: Ja, über 10.000 war der Mitgliederstand mal. Es hieß immer "Ja, sind ja alle Studierende". Ja, aber wenn man das mal mit heute vergleicht, ja? Es waren also viele Studenten, die sich damit identifizieren konnten, natürlich mussten die nicht soviel bezahlen. ... Das ist also dieser Nach-68er-Hintergrund. Da hat man lächelnd damit kokettiert: Wir waren der weltgrößte Therapieverband. Und an so einem Ding kann man vielleicht auch nicht so einfach vorbei sehen. Das hat eine bestimmte Bedeutung gehabt auch von dem Verband aus. Das sind vielleicht die zwei Gründe, sicherlich gibt es noch viele, viele, viele Gründe, ja?

...

B. Röhrle: Ja, hast du noch viele Fragen? Du solltest auch wirklich, jetzt wäre der Zeitpunkt wohl auch, die Frage zu stellen, wie ich mir Zukunft vorstelle, wie sich das entwickelt oder willst du gar nicht?

Wie stellst du es dir denn vor?

B. Röhrle: Es gibt - wie ich denke - zwei Möglichkeiten, also insofern setzt sich die Tradition fort. Je älter ich werde, umso hoffnungsvoller werde ich: Es gibt sozusagen die Variante, dass sich jetzt die Sache mit dem Berufsrecht abgesättigt hat, und man verstanden hat, dass nur eine beschränkte Zahl von Leuten sich niederlassen kann, und damit ist dieses Ding gegessen. Das ist auch organisiert in bestimmten Strukturen, und der Verband wird eigentlich dann ..., arbeitslos nicht, aber er reduziert sich dann auf bestimmte Aspekte, wie Mitarbeit in Gremien und auf diese Ausbildungslinie, die aber insgesamt gesehen von der Zahl der Mitglieder her nicht so groß sein kann ... Weiß ich nicht wie sich das entwickeln wird. Also das ist eine Variante, dass es so wird. Und der Verband sich zu einer ausbildungsakademischen Variante irgendwie weiterentwickelt. Es kann auch nach wie vor mit so einem leicht linken Touch.

Es könnte aber auch sein, dass man dann sagt, "Okay, das Ding läuft und das geht irgendwie, aber dann gibt es noch eine Andere ..." Es gibt ja Hinweise dafür, ich denke jetzt so an unsere Beratungsgruppe um Frank Nestmann und Hubert und so weiter ... Es gibt Leute, die diese alte Variante von Politik in einer gesellschaftlich relevanten Form wieder aufleben lassen. Und dass da vielleicht wieder in Abhängigkeit von den sich entwickelnden gesellschaftlichen Kontexten ..., dass das wieder eine Rolle spielt. Da hoffe ich drauf, dass da noch ein später Frühling kommt. Ich weiß nicht, ob es so wird, aber das wär' eine Chance. Sonst wird der Verband ja eigentlich langweilig zunehmend. Ja, ob der überleben wird, das ist alles offen. Es wird dann ein starker Konkurrenzkampf mit dieser Ausbildungskiste werden, wer immer da der Bessere ist und so etwas. Das ist alles am Anfang jetzt. Das wird man noch sehen, wie sich das weiter entwickeln wird ...