
Dr. Steffen Fliegel hat sein Psychologiestudium in Münster 1974 abgeschlossen und anschließend im Fach Klinische Psychologie promoviert (1978). Er arbeitete 1974-1975 in einer Psychologischen Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Familien und anschließend als Hochschulassistent im Bereich Forschung und Lehre in Klinischer Psychologie an der Ruhr-Universität Bochum (1975-1986). Nach einer leitenden Kliniktätigkeit im Bereich Kinderpsychosomatik war er von 1990 bis 1997 Geschäftsführer des Zentrums für Psychotherapie der Ruhr-Universität Bochum.
Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Verhaltenstherapie (Fachgesellschaft für Verhaltenstherapie, Gemeinde- und Gesundheitspsychologie) war er von 1975-1988. Seit 1990 ist er in der Ausbildungsleitung der DGVT in Kooperation mit der FernUniversität Hagen.
Zudem ist er seither in verschiedenen Bereichen beruflich aktiv, so bspw. auch als Gesellschafter in der Gesellschaft für Klinische Psychologie und Beratung in Münster, als Gerichtsgutachter für die Bereiche Familienrecht und Sexualstrafrecht, als freier Mitarbeiter in Medien und Mitherausgeber von Fachzeitschriften aus den Bereichen Klinische Psychologie und Psychotherapie, Gesundheitspsychologie.
Auszug aus dem Interview mit Dr. Steffen Fliegel:
S. Fliegel: Ich habe das Glück gehabt, ich habe in Münster studiert und habe drei Schwerpunktausbildungen machen können: Verhaltenstherapie, Gesprächspsychotherapie und Gruppendynamik schon damals mit Patientenbehandlungen. Mir wurde ziemlich schnell klar, dass mir die Verhaltenstherapie als sehr aktive Therapie auch sehr liegt. Ich hatte in Münster in der Verhaltenstherapie eine Ausbilderin und einen Ausbilder, Margret Reiss und Dietmar Schulte, die mir die Verhaltenstherapie sehr nahe gebracht haben.
Haben damals also die verschiedenen Therapierichtungen in Münster schon eine gewisse Tradition gehabt?
S. Fliegel: Ja, Münster war damals sicherlich schon eine Psychotherapiehochburg für Verhaltenstherapie und Gesprächspsychotherapie. Es waren auch Leute wie Vaitl, heute in Gießen, oder Fiedler, heute in Heidelberg, Schulte in Bochum. Margret Reiss ist leider gestorben. Die waren in diesen Bereichen damals schon recht ausgewiesen, soweit man das zu diesem Zeitpunkt überhaupt schon sagen konnte. Ich habe '71, '72 dann Klinische Psychologie gemacht, hatte eine Stelle als studentische und dann eine wissenschaftliche Hilfskraftstelle. Nach dem Diplom hatte ich hinterher ein Jahr die Möglichkeit, in der Beratungsstelle der Universität Münster zu arbeiten. Die war auch sehr verhaltenstherapeutisch ausgerichtet, und das förderte meine Entwicklung in diese Richtung.
Diese Beratungsstelle war das eine Beratungsstelle für Studierende oder war das schon so etwas, was man heute unter einer Ambulanz verstehen würde?
S. Fliegel: Ja, denk' ich, heute würde man so etwas darunter verstehen können. Das war eine so genannte Erziehungsberatungsstelle, die von der Stadt Mittel für die Beratung und Behandlung Kinder, Jugendlicher und Eltern bekam. Es wurden aber auch erwachsene Studierende betreut, das wurde dann aus Uni-Mitteln finanziert. Der Gründer dieser Beratungsstelle war Heinz Heckhausen, der dann aber von Münster nach Bochum gegangen ist. Bochum hat überhaupt viele Münsteraner abgezogen. Und es gab Lilly Kemmler als die "Übermutter" in Münster. Was die Therapierichtungen anging, war sie sehr offen, sie hat in sozusagen ihren drei Bereichen ihre Zöglinge groß werden lassen.
Es gab für mich damals eigentlich wenig Kritisches an der Verhaltenstherapie, es war eher so die Abgrenzung von den anderen Richtungen. Ich sah eher kritische Dinge bei der Gesprächspsychotherapie und dachte, nur durch Reden kann man viele Probleme eigentlich nicht lösen, na ja und der Bereich Gruppendynamik und Gruppentherapie war mir zu eng.
Es wird ja für die Anfangszeit immer so beschrieben, dass es da eine "euphorische Begeisterung" für die Verhaltenstherapie gab. Hast du das bei dir selber auch so erlebt oder hast du das auch noch wahrgenommen?
S. Fliegel: Ja sicherlich auch, aber ich finde, es war für die Psychotherapie insgesamt viel Euphorie da. Und die Verhaltenstherapie hatte auch durch ihr eigenes Zutun viele Vorurteile auf den Markt geworfen. Sie ist ja von den tiefenpsychologischen Richtungen sehr kritisiert worden, weil sie durch ihre Kurzinterventionen und ihr klares theoretisches Konzept sehr bedrohlich war. Und sie hat diese Abgrenzung auch durch viel Polemik mitgeschürt, das muss man sagen.
Das ist sicherlich heute anderes geworden. Aber sagen wir mal so, es war damals nichts besonderes Verhaltenstherapeut zu sein, es war eher was Besonderes Analytiker zu sein. Die Verhaltenstherapie von damals hatte es auf dem nicht so einfach. Es gab ja in Deutschland nicht die Person, die die Verhaltenstherapie verkörperte.
Familientherapie hatte Virginia Satir, nicht in Deutschland, aber sie hatte eben zugkräftige Personen, Gesprächspsychotherapie hatte Carl Rogers, die Gestalttherapie Fritz Perls. Es waren überall, sagen wir, Überväter oder Übermütter. Und die Verhaltenstherapie hatte eben nicht so eine Person, von der man sagen würde, "Ja, an der orientiere ich mich." Es gab viele.
In Deutschland hat sicherlich Dietmar Schulte mit die wesentlichsten Impulse gesetzt durch seine damalige Verhaltensanalyse und sein erstes Buch "Diagnostik in der Verhaltenstherapie", Christoph Kraiker dann durch sein "Handbuch der Verhaltenstherapie" ... Aber trotzdem war es nicht so, dass man sagen konnte: "Das sind meine Vorbilder."
Deswegen gab es viele Strömungen, vieles wurde ja aus USA herübergeholt, ausprobiert und übernommen. Und deshalb hatten natürlich die Verbände eine bestimmte Funktion die Verhaltenstherapie stärker zu etablieren, als dass es Einzelpersonen waren.
Denkst du, der Etablierungsprozess war bei anderen Therapierichtungen anders?
S. Fliegel: Ja, also so jemanden wie Tausch in der Gesprächspsychotherapie gab es in der Verhaltenstherapie nicht. Und Kanfer, gut, der wurde immer eingeflogen, er war dann der, der die Verhaltenstherapie stark aus den USA importierte, aber auch nur eine bestimmte Verhaltenstherapie. Ich glaube, das war ein sehr wesentlicher Punkt, und ich meine, das war sehr positiv für die Vielfalt der Entwicklung der Verhaltenstherapie, ja? Es gab bei der VT eben nicht den Tausch-Ansatz oder die Klientenzentrierte Psychotherapie.
Die Verhaltenstherapie hatte viel Spielraum zur Entwicklung und hat das damals sehr ernst genommen, wirklich nur das auf den Markt zu bringen, was mit einer empirischen Basis versehen war. Das ist sicherlich nicht immer so durchgehalten worden, aber es ist immer so dargestellt worden. Und es war sicherlich ein wichtiges Standbein, die empirische Psychologie als Basis zu nehmen.