Auszug aus dem Interview mit Dr. Jochen Sturm:

In welchem Kontext haben Sie die Verhaltenstherapie kennen gelernt?

J. Sturm: Mhm, ja, der erste Kontakt, der war mehr oder weniger zufällig, weil ich von einem Klinikprojekt hörte, das in München bzw. in Windach am Ammersee verwirklicht werden sollte. Und dort sollte die Verhaltenstherapie und nicht tiefenpsychologische Psychotherapie als Therapieverfahren konzeptionell im Vordergrund stehen. Ich habe zu der Zeit in einer Allgemeinpraxis bei Frankfurt gearbeitet, wo ich damals fast ein Jahr eine Praxisvertretung gemacht habe. Dort habe ich eigentlich die Hilflosigkeit gegenüber etwa der Hälfte des Klientels gesehen - das war eine Schlafstadt vor den Toren Frankfurts, Leute mit emotionalen Problemen, mit Befindlichkeitsstörungen, mit Eheknatsch, mit was auch immer ....

Dann bekam ich eine Mitteilung, dass da etwas stattfindet ... Weil ich mit diesen tiefenpsychologischen Ansätzen in der Allgemeinen Praxis eigentlich nichts anfangen konnte, habe ich dort mal nachgefragt. Ich konnte zwar interpretieren oder diagnostizieren, was die Leute haben (lacht), aber wenn ich die in Frankfurt an das Sigmund-Freud-Institut schickte oder an andere Institute, zu niedergelassenen Therapeuten, dann bestätigten sie meine Diagnose oder falsifizierten sie, aber sie schrieben dann zurück: wegen mangelnder Introspektionsfähigkeit keine Psychotherapieindikation, ja?

Deshalb habe ich dann von Anfang an dort mitgemacht. Das war ein Arzt aus dem Max-Planck-Institut, Dr. Schwartz, und damals auch ein Psychologe, Herr Eisenack, der heute noch an der Klinik ist, ich war jetzt gerade zum 20-jährigen Jubiläum da ... (lacht).

Und dort habe ich das dann von Herrn Schwartz gelernt, es gab ja noch keine Ausbildung. Dann suchten wir natürlich, wo man die Ausbildung vertiefen kann. Da gab es verschiedene Veranstaltungsforen: Eines war der DBV, das andere war dann das Max-Planck-Institut oder Professor Brengelmann, der ja auch Kongresse organisierte.

Nachdem ich drei Jahre dort war, bekam ich das Angebot von Professor Reimer von der Klinik in Weinsberg. Der hatte auch eine Psychotherapieabteilung, die von einem Tiefenpsychologen geführt wurde, die existierte als separate Abteilung, wie eine Art Zauberberg auf dem Gelände des Landeskrankenhaus. Darüber gibt es auch einen Aufsatz, den ich in einem Buch von Linden geschrieben habe, über Psychotherapie im Landeskrankenhaus. Dort machten wir eigentlich das erste Mal eine verhaltenstherapeutische Abteilung in einem Landeskrankenhaus auf. Diese Abteilung habe ich damals mit Herrn Ehret, der heute die Abteilung als Psychologe leitet, übernommen.

Und es war sehr interessant, weil wir noch so dicke Videofilme auf Chromatik hatten und uns die ganzen tiefenpsychologischen Gruppensitzungen anschauten, weil ich ja auf einen Schlag die ganzen Patienten übernehmen musste. Und wenn ich mich da zum Beispiel an einen Angstpatienten erinnere, der Bauhilfsarbeiter war ..., der also immer nur stumm dabei saß! Da fragte ich mich natürlich, "Was soll das Ganze?" Ich habe das als Körperverletzung angesehen, was da ablief.

Wir haben eigentlich vom ersten Tag an dort mit den Leuten ...: Trainingsanzug an und raus, Sporttherapeuten dazugenommen und die theoretisch auch instruiert, und wir haben dort Verhaltenstherapie gemacht. Plötzlich kamen auch von anderen Stationen Patienten an, und plötzlich wurden wir auch konsiliarisch auf die Akutpsychiatrie berufen. Dann kam da relativ schnell eine Vernetzung bis hin in die Abteilung von Delinquenten, und da haben wir auch nicht das gemacht, was Assistenzärzte sonst machen, nämlich den schlimmsten Sexualverbrecher explorieren, damit man so anständig was Spannendes mitbekommt. Sondern wir haben ein Training mit den Krankenschwestern angefangen und haben eigentlich damals die Funktion des Co-Therapeuten geschaffen: Das, was wir in Windach schon angefangen hatten, nämlich Schwestern und Pfleger zu trainieren.

Das waren Zeiten, wo ich die Bemühungen der DGVT als Forum schon interessant fand, weil sie berufsgruppenübergreifend war. Also alles, was jetzt wieder eingeengt wird auf Psychologen, war damals weit gefächert. Und die Veranstaltungen waren immer so bestückt, dass zumindest ein Teil sich auch um Therapie kümmerte, der andere Teil drehte sich sehr viel um Gesundheitspolitik und auch um Sozialpsychiatrie. Das war auch der Bereich, in dem ich dann ... zumindest in Weinsberg stark berührt war. In dem Bereich verfolgte die DGVT auch in Folge der Enquetepolitik politische Vorstellungen, die ich zum Teil sinnvoll, zum Teil auch nicht sinnvoll fand, die ich aber nicht nützlich für die Weiterentwicklung der Verhaltenstherapie per se fand. Also es wurden zunehmend Veranstaltung angeboten, die im klinischen Bereich nicht umsetzbar waren, und die waren eigentlich irrelevant für uns Alltagsarbeiter.

Ich habe übrigens 1980, '81 dann in Bad Dürckheim für die erste Rehabilitationsfachklinik das Konzept - selbst als leitender Arzt - gemacht und diese aufgebaut. Die Klink hatte 230 Therapieplätze, da waren an die 40 Ärzte und Psychologen. Und die mussten wir alle trainieren, die mussten wir alle aufbauen, ja? Und da war die DGVT völlig unnütz mit ihrer Peer-Supervision und ihren, sagen wir mal, relativ auf basisdemokratisch Selbstbestimmungsvorstellungen aufbauenden Ausbildungskonzepten ... Diese waren einfach nicht der Situation der klinisch kranken Patienten, die wir dort hatten, angemessen. Dort brauchte man Faktenwissen und Erfahrungsvermittlung.

Und deshalb haben wir damals den FKV gegründet, den Fachverband Klinische Verhaltenstherapie quasi als einen Verband, in dem ausgebildete Verhaltenstherapeuten das Sagen haben, Ärzte und Psychologen, und nicht Theoretiker von den Universitäten und Studenten und alle Berufsgruppen. Im FKV sollte nicht diese politische Arbeit in dem Sinne stattfinden, weil es da genug Gremien gab, auch in der DGVT, sondern dort sollte eben eine klinisch saubere Arbeit vermittelt werden.

Aus diesem Fachverband sind ja dann die Ausbildungsinstitute entstanden, die später durch die Tatsache, dass Verhaltenstherapie auch eine ambulante, von Kassen bezahlte Therapieform wurde, von den Kassenärztlichen Vereinigungen als Erste anerkannt wurden, eben auch wegen des realistischen und praxisnahen oder auch kliniknahen Ausbildungshintergrundes. Viele Ausbildungsinstitute waren ja von Kliniken gegründet worden oder ihnen angeschlossen.

Und da dividierte sich Alles auch politisch auseinander: Die DGVT bekämpfte alles, was KBV war und fand alles das nicht gut, was privat war ... Und wir fanden eigentlich, dass unsere Arbeit nicht nur sehr gut war, sondern eben im Grunde genommen, die wichtigste klinische Versorgungsarbeit in der Krankenversorgung darstellte. Wir haben wenig Hintergrund von den Universitäten gesehen, vom Max-Planck-Institut ja, aber die klinisch-psychologischen Institute haben sich wenig um die stationäre klinische Arbeit gekümmert ...

Meinen Sie mit Hintergrund jetzt das, was die praktische Tätigkeit anbelangt, oder auch, was die Forschung anbelangt?

J. Sturm: Beides, ja, sowohl als auch. Um zu forschen, brauchen Sie Patienten, und die klinisch-psychologischen Institute haben keine Patienten gehabt oder sie haben an Studenten geforscht oder an einem Klientel, das sie in Zeitungen aufgerufen haben oder wo auch immer.

Und wir haben die Patienten gehabt und haben deshalb auch die Forschung selbst übernehmen müssen, die großen Evaluationsstudien stammten damals alle aus den Kliniken. Ich habe Ende der 80er Jahre, Anfang der 90er Jahre mal eine Aufstellung aus den Kliniken gemacht, die damals allein zu unserer Trägergesellschaft gehörten (das war die Allgemeine Hospitalgesellschaft, die auch heute noch da ist): Da waren über 600 Veröffentlichungen zu klinisch relevanten Verhaltenstherapie-Themen. Die erste Fachzeitschrift haben wir damals auch gegründet die "Praxis der Klinischen Verhaltensmedizin und Rehabilitation", die sich auch heute noch konkret mit den tatsächlichen Klinikthemen befasst ...

Wann ist die denn gegründet worden?

J. Sturm: 1988. Von mir und Zielke zusammen. Und nehmen Sie auch diese Gründung der Zeitschrift: Da haben also seit Anfang der 80er Jahre immer wieder Gremien beraten, und alle wollten was machen ... Aber wenn Sie dann diese widersprüchlichen Auffassungen haben! Ob es die Verbände waren, die DGVT und dann der FKV natürlich für den klinischen Bereich: die einen mochten die andern nicht, und die anderen die einen nicht, und im universitären Bereich: auseinanderstrebende Interessen ... Also das war irgendwie nicht unter einen Hut zu bringen! So dass wir quasi ein eigenes System aufmachten, vom Fachverband über das Ausbildungsinstitut. Und das wurde dann natürlich durch die Kassenfähigkeit der Therapie unterstützt, so dass wir auch gut ohne die anderen leben konnten.