Dr. Irma Gleiss arbeitet als Psychoanalytikerin in Berlin. Anfang der 70er Jahre war sie als Wissenschaftliche Assistentin an der FU Berlin tätig und in den 70er Jahren Mitglied in der Redaktionskommission der Mitteilungen der DGVT (Vorläuferzeitschrift der heutigen Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis).

 

Auszug aus dem Interview mit Dr. Irma Gleiss:

I. Gleiss: Die Verhaltenstherapie hatte bei der Mehrheit und auch bei mir aus ganz verschiedenen Gründen die größere Sympathie, natürlich in erster Linie aus ideologischen Gründen. Man hat geglaubt, dass sie materialistisch ist. Der Materialismus stand ja - ideologisch gewertet - an oberster Stelle.

Und dann war es auch wirklich so, wir haben ja immer nach Osten in die DDR geschielt, dass die der Verhaltenstherapie wohlwollender gegenüberstanden, weil sie irrtümlicherweise dachten, dass es gut mit der Pawlowschen Reflexologie kompatibel ist. Was ich nicht glaube, dass das stimmt. Jedenfalls war es so, dass Eysenck als allererstes in der DDR übersetzt worden ist, und das hat uns eher offen gemacht. Aber ansonsten wusste ich noch überhaupt nichts, ich hatte also, glaub ich, weder Eysenck noch sonst irgendeinen original verhaltenstherapeutischen Text gelesen.

Dann kam Eva Jaeggi als Verhaltenstherapeutin und mit der ging alles weiter. Sie hatte recht schnell einen offenen, kritischen Ansatz, der später zu der kognitiven Verhaltenstherapie geführt hat. Und in dem Kontext mit Eva Jaeggi haben wir die Theorie - das was es gab - kritisch aufgearbeitet und haben unter ihrer Anleitung oder unter gegenseitiger Supervisionen erste praktische Erfahrungen mit Patienten gemacht. Das habe ich eine Weile mitgemacht bis ich den Eindruck hatte, das befriedigt mich nicht, also meine Neugier bleibt auf der Strecke, besonders in der Frage, wie das Alles lebensgeschichtlich zusammenhängt. Das hat mich persönlich in die Psychoanalyse geführt ...

Wie ging das dann zusammen, der emanzipatorische Anspruch bzw. die linken Positionierungen und die Verhaltenstherapie? Sie haben eben auch gesprochen von "Da hat man sich einiges konstruiert, damit das zusammen gepasst hat". Was waren das für Gründe oder Konstruktionen?

I. Gleiss: Ich denke, ein Kerngedanke ... - heute würde ich das natürlich anders sehen und anders interpretieren: Ich denke, wir haben einfach massiv Gefühle abgewehrt; das war ja eine absolut rationalistische Herangehensweise - und ein Kerngedanke war der Praxis-Begriff, ja? Den gibt es ja im Marxismus genauso wie in der Verhaltenstherapie, sozusagen das Sein bestimmt das Bewusstsein. So dass die Verhaltenstherapie in dem Sinne also auch ein materialistischer Ansatz war. Dass der Mensch Gedanken hat ..., das haben dann andere fortgesetzt, da bin ich schon längst ausgestiegen, weil es mir zu fragwürdig erschien. Aber der Gedanke, dass man über eine bestimmte Praxis mit dem Patienten auch erreichen kann, dass der gesellschaftliche Widersprüche erkennt und nicht nur die Krankheit in sich sieht, sondern sich als Opfer der kapitalistischen Widersprüche sieht. Ich weiß nicht, ob Ihnen der Fall Kapeller was sagt?

Nee.

I. Gleiss: Das war zwar nicht Verhaltenstherapie, aber der ganze linke Ideologieteil war ähnlich, nämlich dass man die Patienten aufklärt ..: Das war in dem Fall ein Kind, das eben darüber aufgeklärt wurde, dass seine Eltern eigentlich nur Handlanger der kapitalistischen Gesellschaft seien, und der wurde ermuntert, gegen die Eltern zu rebellieren. Und das war sozusagen Therapie. Also dass wir auf dem Papier den Anspruch hatten, auch politisch zu agitieren.

Und es ging ja darum, sich theoretisch zu legitimieren. An solche Sachen denke ich.

Aus der heutigen Perspektive, was würden Sie sagen, was wurde da damals verdrängt oder was wurde wegrationalisiert?

I. Gleiss: Ja. Also ich glaube wirklich, dass wir den ganzen Bereich der psychischen Störungen wirklich als kognitiv und bestenfalls noch als erlebnisbestimmt gesehen haben. Aber dass wir überhaupt nicht in der Lage waren, auch nur ansatzweise die Idee zu entwickeln, dass irgendwelche subjektiv brisanten, schmerzhaften Gefühle und so etwas zentral waren. Dieser ganze vielleicht auch etwas verschwommen-romantische Bereich der tieferen und schwierigen Gefühle ...: Das war alles nicht mal tabu, also in dem Sinne, dass man wusste, da ist etwas, was man nicht anfassen darf, sondern es war wie ausgeblendet. Es war einfach nicht da. Und die ganze Psychologie, die damals speziell diesen Bereich getragen hat, war ja auch eine Psychologie, die aus der Nazizeit herübertransportiert wurde. Die fand man natürlich nur abartig und schrecklich.

Von daher war die Begegnung mit der Psychoanalyse für mich dann wirklich eine Erleuchtung, also so ein Wissensgebäude, in dem es um die Emotionen geht, wo man sich damit befasst ohne darin zu versinken.

Was die Verhaltenstherapie damals betrifft, kam das, denke ich, auch Vielen gelegen. Wobei es auch viele Diskrepanzen gab.