Dr. Christoph Kraiker arbeitet am Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität München. Er kam als wissenschaftlicher Mitarbeiter mit Professor Albert Görres Mitte der 60er Jahre von Mainz nach München. Herr Kraiker hat eines der ersten deutschsprachigen Lehrbücher zur Verhaltenstherapie  (Handbuch der Verhaltenstherapie, erschienen 1974 bei Kindler) herausgegeben.

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Auszüge aus dem Interview mit Herrn Dr. Christoph Kraiker:

C. Kraiker: Also kennen gelernt habe ich die Verhaltenstherapie  zunächst durch Vorlesungen von Professor Görres in Mainz. Der hat 1963, '64 angefangen lerntheoretische Therapien vorzustellen, obwohl er ja selber Psychoanalytiker war. Das war auch einer der Gründe oder eigentlich der Grund, warum ich mein Psychologiestudium hier in Deutschland in Mainz begonnen habe. Ich habe mir angeguckt, was es in Deutschland gibt und fand diese Kombination, die Psychoanalyse und die Verhaltenstherapie, interessant. Damals hieß es ja noch nicht Verhaltenstherapie, der Begriff ist erst später gängig geworden, obwohl er in Amerika als "Behavior Therapy" bereits existierte.

Görres hat also die ersten verhaltenstherapeutischen Therapien vorgestellt, insbesondere die Systematische Desensibilisierung nach Wolpe und Therapieansätze, die aus der Theorie des operanten Konditionierens kamen. Dort in Mainz, das war im Frühjahr '65, '65 bis '66 war ich dann dort, hatte das alles nur rein theoretischen Charakter.

Was mich interessiert hat, das war nicht so sehr die praktische Anwendbarkeit, weil das war mir damals nicht klar, dass ich das jemals machen würde. Sondern was mich interessiert hat, das war der wissenschaftstheoretische Aspekt, insbesondere das Problem, wie man an einen Gegenstand, nämlich menschliches Erleben und Verhalten, mit unterschiedlichen Theorien herangehen kann: Was das bedeutet, ob das überhaupt möglich ist, welche Konsequenzen das hat, und ob man sich verständigen kann und ähnliches ...

Das war damals ein Lehrstuhl für Klinische Psychologie?

C. Kraiker: Das war ein Lehrstuhl für Klinische Psychologie und damals ist meines Wissens der Begriff zum ersten Mal aufgetaucht. Es war ja nicht klar, wie man das nennen sollte. In Amerika hieß das in den entsprechenden Lehrbüchern "Abnormal Psychology". Das war im Deutschen unübersetzbar, also man hätte es schon übersetzen können, aber das hätte bei uns ganz andere Konnotationen gehabt. "Abnormale Psychologie" der Begriff existierte bei uns gar nicht. Deswegen heißt z. B. ein so bekanntes Lehrbuch, wie das von Comer, im Englischen "Abnormal Psychology" und im Deutschen "Klinische Psychologie". Görres hat dieses Institut, das er hier in München gegründet hat, praktisch "fifty fifty" mit Psychoanalytikern und mit Leuten, die sich mit Verhaltenstherapie beschäftigen sollten, besetzt. Es gab natürlich noch überhaupt keine Verhaltenstherapie in Deutschland, es gab gar keine Ausbildung. Die Einzige, die wohl vorher auch schon Lehrveranstaltungen dazu angeboten hat, war meines Wissens Prof. Erna Duhm. Man müsste einmal in den Vorlesungsverzeichnissen nachgucken, was das war.

Und die Idee war, dass die sich hier sozusagen zusammenraufen sollten und eine grundsätzliche wissenschaftliche Debatte über Psychoanalyse und Verhaltenstherapie führen sollten. Da es aber keine Verhaltenstherapeuten gab, mussten die erst einmal hergestellt werden. Und da wurde also Jarg Bergold nach London geschickt zum Maudsley und Tunner ... Sie haben ja mit ihm schon gesprochen, oder?

Nee, mit den beiden habe ich noch nicht gesprochen. Aber das war mir nicht klar, dass die beiden praktisch im Auftrag von Görres verschickt worden sind.

C. Kraiker: Ja, ja, die sind im Auftrag von Görres verschickt worden. Jarg Bergold war dann ein Jahr im Maudsley. Wolfgang Tunner ist dann später in die USA gegangen und hat dort gearbeitet. Ich weiß nicht mehr, ob er bei Skinner war. Und Bergold kam eben nach einem Jahr zurück vom Maudsley Hospital und war dann hier in Deutschland der Experte für Verhaltenstherapie ...

Görres hatte sehr starke theologische Interessen und hat sich letzten Endes immer mit dem christlichen Menschenbild beschäftigt. Er hat nie Psychologie studiert, sondern Medizin und Philosophie. Und was er konnte, das war Wissenschaftstheorie. Die große Vorlesung, die er Mitte der 60er Jahre in Mainz und München simultan gehalten hatte, die hieß "Phänomenologie und Operationismus als Grundlagen der Psychologie". Es ging nämlich um die Grundlagen: "Was ist Bewusstsein, gibt es das überhaupt? Wie kann man eine Wissenschaft des Menschen betreiben�".

Und wir hatten hier in München einen sehr bekannten Wissenschaftstheoretiker, Wolfgang Stegmüller, der eine - wie würde man es nennen - neoempiristische Wissenschaftstheorie vertreten hat. Görres hatte sich sehr befasst mit Leuten wie Husserl, Bridgman die Logik der modernen Physik, diese Theoretiker. Und Stegmüller hatte wiederum eine sehr empiristische Auffassung vertreten, die sowohl mit dem Psychoanalytischen wie mit dem Christlichen unvereinbar war. Natürlich war das Psychoanalytische mit dem Christlichen auch nicht ohne weiteres vereinbar. Freud war ja Atheist und hatte wiederum eine eigene Wissenschaftstheorie, die keine Religiosität erlaubte. Es gab auch wieder eine Menge Versuche, das doch zu vereinigen.

Und ich weiß nicht, was Görres von Verhaltenstherapie gelesen hat, ich kann mich nicht mehr erinnern, auf welche Theorie er sich berufen hat. Ich weiss nur noch, dass er sich mit Wolpe ... Es muss zu der Zeit irgendwelche Veröffentlichungen auf Deutsch von Wolpe gegeben haben, weil Englisch wird er sicher nicht gelesen haben. Denn das erste große Werk von Wolpe "Psychotherapy by Reciprocal Inhibition", das '58 erschienen ist, wurde nie übersetzt.

Das ist wirklich schade, weil Wolpe war von Hause aus auch Psychoanalytiker, und in diesem Buch ist alles noch ziemlich vermischt und relativ offen. Es gibt zum Beispiel in dem Buch von Wolpe hinten Zusammenfassungen von Fallberichten, und da gibt es viele Fälle, die dauern Jahre, ja? Ich kann erinnern, dass es ein paar Fälle gab, die haben sechs Jahre gedauert, Und das ist etwas ganz anderes als das, was man später gesagt hat, dass man bei solchen Desensibilisierungen 25 Sitzungen machen kann. Und da gab es noch sehr ausführliche Diskussionen über Abreaktionen, Katharsis und andere psychoanalytische Begriffe. Das wurde später dann alles stärker in eine bestimmte Richtung hin ideologisiert.

Görres hat einiges von Wolpe gelesen, er hat auch Skinner gelesen, ich kann Ihnen aber auch nicht genau sagen, was er da gelesen hat. Das Ganze hat ihn eigentlich unter zwei Aspekten interessiert: einerseits als potentielle therapeutische Methode, die in großem Maßstab angewendet werden kann, bei der die Ausbildung jedenfalls schneller ist als bei der Lehranalyse, die sich über wer weiß wie viele Jahre hinzieht. Letzten Endes hat ihn eigentlich der anthropologische Aspekt interessiert, wie auch in seinen Veröffentlichungen. Es gab ja kaum klinische Veröffentlichungen vom ihm, sondern vorwiegend philosophische Arbeiten.

Ja, das hat sich dann verändert, als Görres gegangen ist. Wir haben hier dann sozusagen als Nachwehen der 68er Revolution Anfang der 70er Jahre den Umsturz in der GVT erlebt, den Sie ja sicher auch schon ausführlich analysiert haben, und dann aber auch den Zusammenbruch dieser ganzen Bewegung. Das heisst, als ich mit meiner Arbeit über Psychoanalyse und Verhaltenstherapie fertig war, das war 1980, war auch diese erbitterte Kontroverse, die nicht nur einen wissenschaftlichen, sondern auch diesen politischen Hintergrund hatte, weitgehend vorbei. Es hat die Leute nicht mehr interessiert. Und da zeichnete sich bereits ab, was man heute sieht, dass die theoretische Arbeit verschwand und man sich ganz auf empirische Effektivitätsforschung konzentriert hat.